Nachlese Energie Lounge I/2023: Bauen stoppen und Bestand nutzen!?
Der Bausektor in Österreich verursacht mehr als 50 % des Abfallaufkommens, 30 % des stofflichen Verbrauchs und 50 % des Energieverbrauchs. Energie- und Ressourcenengpässen, Lieferkettenprobleme und rasant steigende Grundstücks- und Baupreise fordert alle Beteiligten. Was kann und ist zu tun angesichts der multiplen Krisen die auch das Bauen treffen? Ist „Stoppt das Bauen“ die Lösung, die DI Charlotte Bofinger vorschlägt? Darüber diskutierten vier hochkarätige Gästen aus der Bauplanung, Bauwirtschaft und Politik.
Planetare Grenzen für die Baubranche: Abriss- und Neubaustop als Lösung?
Charlotte Bofinger, ihres Zeichens Bauingenieurin bei zirkular ,Aktivistin für planetengerechtes Bauen und Gründungsmitglied des Rethink Materials Kollektiv verwies bereits zu Beginn des Abends auf den hohen Anteil an der Verletzung planetarer Belastungsgrenzen der Erde in der Baubranche und stellte als Konsequenz eine durchaus radikale Forderung:
„Stopp von Abriss und Neubau!“
Stattdessen plädiert sie nicht nur dafür, unsichtbaren Leerstand zu nutzen und intelligente Umnutzungskonzepte von Bestandsgebäuden zu entwickeln, sondern auch dafür, Bauteile wiederzuverwenden, auseinanderzuschneiden und ihrer Funktionalität in anderen Gebäuden wieder nutzen.
„Da müssen wir eigentlich zurück, das ist alles überhaupt nichts neues, das haben wir nur die letzten 100 Jahre nicht gemacht“, Charlotte Bofinger
"Die Krisen in denen wir uns befinden, erfordern radikale Lösungen. Mit nur ein bisschen kucken, wird es da schwierig." Gudrun Sturn
Um-Nutzung und ReUse
Bofinger berichtet über die Tätigkeiten des Baubüro in situ, das beispielsweise in Winterthur eine bestehende Lagerhalle aufgestockt hat: mit dem Ziel, ausschließlich bereits vorhandene Bauteile aus Rückbauten zu verwenden - schlussendlich mit großem Erfolg. Eben jenem Baubüro ist später das Fachplanungsbüro Zirkular hervorgegangen, welches sich mit Nutzungsfragen bei Leerstand beschäftigt. In der Branche werden ganze Berufsgruppen neu erfunden: Bauteiljäger*innen etwa, die screenings durchführen und in hoch iterativen Prozessen Material in Gebäuden suchen: "wem gehört wann was, wer gibt was her, wie demontieren wir es, wie können wir Gebäude zerschneiden, dass es nicht einstürzt, wie weiß ich ,was das Material kann?"
Als vorbildhaftes Unternehmen in Sachen Bauteil-Wiederverwendung, führt Bofinger die Immobilien Basel Stadt an. Um übermäßigen Ressourcenverbrauch einzudämmen, haben diese einen Bauteil-Katalog erstellt, in dem die Stadt selbst aus ihren Rückbauten Bauteile aufnimmt und Wettbewerbe dementsprechend ausschreibt.
Komplexe Baubranche
Nicht ganz so überzeugt von der Forderung des Abriss- und Neubaustopps ist, wohl naturgemäß, Reinhard Schertler vom Bau- und Immobilienunternehmen i+r Schertler.
Wenngleich sein Unternehmen sich auf mehrere ökologische Grundpfeiler stützt und sich in Sachen Nachhaltigkeit durchaus Vorbildhaftes auf die Fahnen schreiben kann. Die neu errichtete Zentrale, das Low-Tech Bürogebäude der i+R Gruppe in Lauterach entspricht höchsten Standards für ökologisches und nachhaltiges Bauen.
Die Baubranche selbst beschreibt er als eine sehr komplexe – mit zahlreichen Regeln, Playern und Wirtschaftszweigen. Weshalb es mit den Veränderungen nicht immer so einfach sei. I+R Schertler habe bereits mit re-use angefangen: bei der Erweiterung des Bürohauses wurden Holzträger wiederverwendet. Es würde viel recycelt, immer weniger weggeworfen und versucht der Kreislaufwirtschaft zuzuführen.
Was das Bauen im Bestand mitunter behindere?
„Wir hängen immer noch der autogerechten Stadt an. Das behindert das Bauen auf Bestand. Man muss ja nicht überall einen 15-Tonner in jeden Hinterhof fahren können.“ Reinhard Schertler
Schertler ist überzeugt davon, dass aufgrund der hohen Preise mehr Menschen länger daheim wohnen bleiben und spekuliert darauf, dass so neue Ideen frei werden. Grundsätzlich ist er der Überzeugung:
„Jedes Haus, das ich nicht baue, spart Ressourcen, Zeit, Geld und Co2. Und alles was man lang nutzen kann ist ideal.“
Dass sich Manchen die Frage ums Eigenheim eben gar nicht erst auftut, stellte Bofinger recht nüchtern klar:
„Als Millennial ist es für mich hoffnungslos. Ich werde mir nie ein Haus leisten können – dieses Jahreseinkommen kriege ich nicht zusammen im Vergleich zu meiner Elterngeneration.“
Identität mit Bestand: Nachnutzung, Nachverdichtung, Generationenwohnen
Auch in der Marktgemeinde Lustenau sieht man sich mit der Frage konfrontiert, wie innovative, klimaneutrale und biodiversitätsfördernde Quartiersentwicklung möglich ist, wie also der Bestand besser genutzt und nachgenutzt wird. Bernard Kathrein, Leiter des Lustenauer Bauamts, ist mitunter für die eigens eingerichtete Leerstand-Servicestelle „Ein guter Rat“ zuständig. Und hat sich demgemäß sehr intensiv mit dem Thema Leerstand befasst. Im Rahmen der Gemeindeentwicklung wurde der Versuch gestartet, über Beratungsangebot und Best practice Beispiele aufzuzeigen, wie Nachnutzung und Nachverdichtung, aber auch Generationenwohnen möglich sind.
Denn, was Kathrein stark bemängtelte: Identitätsstiftende Gebäude würden nicht zu selten abgebrochen und neu gebaut.
„Hier geht es aber auch um Identität im Ort, da sollten Kommunen, aber auch die Gesellschaft umdenken.“ Bernhard Kathrein
In Lustenau wird derzeit ein Ortsbildinventar erstellt und darauf gehofft, dass bei der Novellierung des Baugesetzes der Paragraph 17 (Schutz des Orts- und Landschaftsbildes) gestärkt wird.
Gudrun Sturn setzt als Landschaftsarchtitektin und Sanierungslotsin ihren Fokus ebenso auf Nutzen und Sanieren von Bestand. In professionellen Sanierungs-Vorberatungen begleitet Sie Bestandseigentümer*innen, um die wahren Potenziale von des jeweiligen Gebäudes für Sanierungen zu erkennen.
Wie auch Kathrein plädiert Sie auf ein Umdenken in Bezug auf Standards im Bestand und nennt als Beispiel die Südtirolersiedlung in Bludenz. Bei der Sanierung wurden Teile erhalten und die Bewohner*innen schätzen den Charme dieses Quartiers. In diesem Zusammenhang spricht Sturn von goldene Energie. Leerstehende Investorenwohnungen jedenfalls, so die Expertin, könnten wir uns sparen.
"Ich wünsche mir Mut für Experimente – eine Bauteil-Börse in Vorarlberg etwa fände ich sehr spannend." Gudrun Sturn